Posts

Es werden Posts vom Juli, 2023 angezeigt.

Tag 20: Jahr ohne Sommer

Bild
Ein Jahr ohne Sommer gab es in der Geschichte wirklich: Es handelt sich um 1816, in dem es zu starken Regenfällen, Nachtfrösten und ungewöhnlicher Kälte kam. Wer will, kann sich bei Wikipedia o. Ä. schlaulesen. Die Ursache war ein schwerer Vulkanausbruch im Vorjahr, der zu einem weltweiten vulkanischen Winter geführt hatte.  Auch 2023 gibt sich - zumindest in unseren Breiten - eher nasskalt - ich weiß, in Südeuropa sieht es ganz anders aus. Für mich fällt der Sommer dieses Jahr ohnehin aus, das würde er auch, wenn es so heiß wäre wie 2022. Ich verbinde Sommer normalerweise mit einer gewissen Leichtigkeit und Gelöstheit. Gestern Abend habe ich die Buchungshistorie in meinem Deutsche-Bahn-Account durchgelesen, meine kleine Familie und ich waren immer gern unterwegs. 2022 um diese Zeit standen wir kurz vor unserem Urlaub am Rhein und in der Eifel, wir waren vom 4.8 bis 17.8 unterwegs gewesen.  Kurz zuvor hatte Veronika positive Nachrichten aus der Klinik mitgebracht: Die Radiochemotherapi

Tag 17: Brief an meine Tochter

Bild
Liebe Sonja,  hier bist du mit unserer Zwergschnauzerhündin Isa im Husumer Schlosspark. Ich habe dieses Foto von euch spontan geschossen, weil ich es so passend fand: Du gehst, begleitet von unserer treuen Hündin, durch ein Tor in einer hohen Mauer. Kurz vorher hast du mich gefragt: "Papa, was ist da hinten?" Ich konnte es nicht beantworten, weil ich an diesem Ort noch nie zuvor war und sagte zu dir: "Geh einfach mal durch." Du kannst - so glaube ich - in jeder Mauer - und sei sie noch so hoch oder trutzig - einen Durchgang, ein offenes Tor finden. Hinter diesem Tor sind hohe Bäume, an die du dich anlehnen kannst, Wiesen, auf denen du mit Isa spielen kannst und Bänke, auf denen du dich ausruhen kannst. Soweit ich es sehen kann, ist es dahinter sehr schön. Meine liebe Sonja, du stehst durch Mamas Tod vor einer sehr hohen Mauer, wahrscheinlich - so wünsche ich es dir - wirst du nie wieder in deinem Leben  - vor einer so hohen Mauer stehen wie in dieser Lebensphase. Ab

Tag 15: Panta rhei

Bild
Panta rhei ist Altgriechisch, stammt vom Philosophen Heraklit und bedeutet "Alles fließt". Mir kommt dieser Gedanke jedesmal, wenn ich aus Wattenmeer schaue. Der unabänderliche Rhythmus von Ebbe und Flut, der diese von mir so geliebte Landschaft formte und formt. Das Wort Gezeiten zeigt schon, dass es ganz eng mit der Zeit verbunden ist. Im Niederdeutschen gibt es mit Tide nur ein Wort für Zeit und Gezeiten .  Die Menschen setzen diesem Naturgesetz ihre Deiche entgegen und auch diese müssen gepflegt werden, sonst holt sich die Natur das in Jahrhunderten der See abgerungene Land zurück. Manchmal kommt es zu Sturmfluten, denen die Deiche nicht standhalten: Was eben noch Land war, gehört unwiederbringlich dem Ozean und die Topographie ändert sich für immer. Die Menschen versuchen zwar durch Eindeichungen, die Landkarte dem Fluss der Gezeiten und der Zeit zu entziehen, aber es gelingt ihnen nicht immer.  Mich beruhigt der Blick auf das langsam auf- oder abfließende Meer immer s

Tag 13: Wieder im Zug

Bild
  Während ich das hier schreibe, sitze ich mit Sonja (und natürlich Isa) im ICE Richtung Norden. Sonja hat sich gewünscht, nochmal ein paar Tage nach Husum zu fahren, von wo wir ja wegen Veronikas Tod - zu spät - nach Göttingen zurückgekehrt waren. Obwohl es sich für mich sehr komisch anfühlen wird, mich dort zu bewegen, wo ich vom Tod meiner Frau erfaren musste, komme ich Sonjas Wunsch nach - vier Tage werden wir dort bleiben. In diesem Zusammenhang muss ich eine Geschichte erzählen, die mich so berührt hat, dass bei mir letzte Nacht alle Schleusen offen waren, obwohl ich keine große Heulsuse bin: Aus unserer letzten Fahrt nach Husum am 6. Juli - also vor 17 Tagen - kamen wir mit einer sehr sympathischen älteren Dame ins Gespräch, sie saß eine Reihe vor uns. Sie erzählte uns, dass sie als Ehrenamtliche auf der Palliativstation der Universitätsmedizin Göttingen arbeite, eben genau dort, wo Veronika zu dem Zeitpunkt lag. Natürlich erzählten wir - vor allem Sonja - ihr von sich und Veron

Tag 12: Zurück auf Los

Bild
  Ich habe kurze Haare, nur ein paar Millimeter sind übrig. Für mich etwas komplett Ungewohntes und etwas, was ich nie gewollt hätte. So wie mein Familienstand - oder auf Neudeutsch Beziehungsstatus: Auch diesen wollte ich nie und will ihn nach wie vor nicht.  Aber es gibt noch zwei Gründe: Im Hínduismus ist es Tradition, dass sich Hinterbliebene eine Glatze scheren lassen. Meine "Unfrisur" hat mir unsere Freundin Lena direkt nach Veronikas Tod geschoren - vielen Dank an sie dafür und an ihren Mann Ingo fürs Aufsaugen.  Der zweite Grund ist etwas persönlicher: Veronika hat unzählige Chemotherapien tapfer und ohne zu klagen über sich ergehen lassen. Der Haarausfall - Mediziner nennen ihn Alopezie - ist eine der sichtbarsten Nebenwirkungen dieser Behandlungen. Die Medikamente verhindern die Zellteilung aller sich schnell teilenden Zellen mit dem Ziel, die sich schnell vermehrenden Krebszellen an der Ausbreitung zu hindern. Die auch Zytostatika genannten Mittel wirken aber im ga

Tag 11: Die Zeit - rückwärts und nach vorne

Bild
Seit Veronikas Tod sind jetzt elf Tage vergangen - zumindest sagt das der Kalender. Ich habe hingegen das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben. Ich muss im Kalender nachsehen, um zu wissen, welcher Wochentag ist. Zum einen liegt es sicher daran, dass jetzt Sommerferien sind und die Schule als Taktgeber fehlt, zum anderen habe ich meine berufliche Tätigkeit stark zurückgefahren, weshalb auch hier die typische Wochenroutine gerade "fehlt". Auf der anderen Seite - wenn ich zurückblicke - kommt es mir so vor, als sei Veronika erst gestern von uns gegangen. Vielleicht kann ich meine momentane Stimmungslage so beschreiben: Mein bisheriges Leben, in dem Veronika mein ruhender Pol und Lebensmittelpinkt war, ist unwiederbringlich vorbei. Das, was kommt - denn ich werde weiterleben müssen, schon allein Sonja zuliebe, hat noch nicht angefangen.  Ich habe gestern gelesen, dass Trauernde die unterschiedlichsten Spontanreaktionen zeigen: Zwischen totaler Lethargie und totaler Rastlosigkei

Tag 8: Zwischen Routine und Schmerzen

Bild
Heute bist du, meine liebe Veronika, seit acht Tagen nicht mehr bei uns. Unser schönes Haus hast du heute vor 20 Tagen schon verlassen., so lange bin ich quasi schon alleinerziehend. So langsam aber sicher beginne ich zu verstehen, dass du nie wieder nach zurückkehrst. Ich denke in fast jeder Situation, wie es wohl mit dir wäre, was du sagen würdest, welchen Witz wir machen würden. Besonders ungewöhnlich ist das Heimkommen: Ich kann nicht einfach klingeln, denn du wirst nie wieder die Haustür öffnen. Praktisch heißt das, dass Schlüsselvergessen jetzt ein absolutes No Go ist, denn es würde ein teurer Spaß. Manchmal wünsche ich mir einfach, dieser Film wäre vorbei, ich komme vom Einkaufen oder dem Hundespaziergaang zurück, und du öffnest einfach die Tür, wir erzählen, was passiert ist und gehen dann unseren Aufgaben nach. Aber das kommt nie wieder. Und das ist im Moment unvorstellbar. Heute hat dein Vater noch Fotos für Sonja geschickt, eines, auf dem du Mitte 30 bist und eines, wo du mi

Tag 6: Brief an Veronika

Bild
Meine liebe Veronika, heute vor einer Woche war ich mit Sonja auf Sylt. Und wir haben das letzte Mal miteinander am Telefon gesprochen. Manchmal ist es besser, wenn man sowas in dem Moment nicht weiß - das glaube ich zumindest. Noch nie hat sich in meinem Leben so viel verändert, wie in der letzten Woche. Und ich merke, dass ich noch nicht umrissen habe, was eigentlich passiert ist: Du bist weg, du, die du immer da warst, die mit mir durch dick und dünn gegangen ist. Unser Haus sieht immer noch so aus, als würdest du gleich reinkommen, wahrscheinlich würdest du mir sagen, ich soll doch meine Schuhe aufräumen. Oder wir würden unsere vertrauten Späße miteinander machen. Aber du kommst nie wieder, du wirst mich nie wieder rufen, wenn ich im Keller bin und du im Parterre, ich werde nie wieder augenrollend die Treppe heraufkommen. Nie wieder. Ich weiß ja nicht, ob du mitkriegst, was ich so tue: Die meiste Zeit sitze ich an deinem Schreibtisch, erledige irgendwelches Zeug, was mit deiner Tra

Tag 1: Viele Anrufe und die Tränen meines Kindes

Bild
Da ist er also: mein erster Tag als Witwer und alleinerziehender Vater. Nach dem Tod setzt sich erstmal eine Mühle in Gang: Ich habe einen Termin bei einem Bestattungsinstitut. Veronika hat ihr Leben lang alles vorbereitet - so hatten wir schon im Juni 2023 einen Termin bei einer Bestatterin in unserer Nähe wahrgenommen, um das wohl Unvermeidliche zu planen.  Ich muss aber noch etwas erzählen: Gestern habe ich meine geliebte Veronika kalt und leblos in der Klinik gesehen, die Augen geschlossen, das Gesicht erschlafft, knochig und unglaublich weit weg. Ich kann es nicht beschreiben, wie schmerzhaft es war: Es hat so höllisch wehgetan sie so zu sehen und gleichzeitig zu verstehen: Sie wird nie wieder lachen und sie hat - frei nach Michelangelo Buonarrotti - die Räume gewechselt.  Von einer Freundin der Familie habe ich dann erfahren, wie ihr letztes Zusammentreffen mit Veronika war - ich möchte nicht alles hier wiedergeben - aber mir wurde klar: Sie wollte gehen, sie hat die höllischen S

Tag null: Drei Anrufe

Bild
"Nehmen Sie sich Zeit mit Ihrer Tochter." - so ungefähr hatte mir Veronikas behandelnde Onkologin im Gespräch gesagt. Es war klar: Das Fortschreiten von Veronikas Erkrankung würde sich nicht mehr aufhalten lassen - dennoch gaben die Ärzte meiner Frau noch einige Wochen - und waren bereit, sie auf der Palliativstation gut zu versorgen und schmerzfrei zu halten . Das war - grob gesagt - der Inhalt des Arztgesprächs, das ich noch am 5.7 geführt hatte. Nach langem Hadern entschied ich mich mit meiner Tochter Sonja für eine siebentägige Auszeit in Husum an der Nordsee. Eine Auszeit, die ich schon im Oktober 2022 als Familienurlaub gebucht hatte. Vor einigen Wochen war klar, dass Veronika nicht mehr die Kraft aufbringen würde, mitzufahren. Meine Tochter wollte nicht die sein, die von den Kindern aus ihrer Schulklasse nicht in Urlaub fahren würde. So fuhren wir mit kleinem Gepäck, unserer Hündin und einem Rest Unsicherheit am 6.7 nach Husum. Der Zustand meiner Frau hatte sich auf ni

Wer sind wir

Bild
Veronika und ich haben uns Ende 1996 kennen und Anfang 1997 lieben gelernt. Ich damals 20, sie 24. Viele gaben uns nicht lang und wunderten sich über den Altersunterschied. Es herrschte in vielen Köpfen die Vorstellung, der Mann müsse älter als die Frau sein. Damals studierten wir beide an der Universität München: Sie Germanistik und Slawistik, kurz vor dem Magisterexamen und ich war im ersten Semester Romanistik. Seitdem gehen wir durch dick und dünn und vor allem immer Seite an Seite: Fast mein ganzes Leben seit der Volljährigkeit habe ich mit Veronika verbracht.  2001 haben wir geheiratet, 2002 bis 2005 waren wir in Polen, danach verschlug es uns in die Universitätsstadt Göttingen, es war als Übergangswohnsitz nach unserer Rückkehr aus dem Ausland gedacht. Nichts hält bekanntlich so lange wie ein Provisorium und so sind wir dort geblieben, obwohl wir beruflich lange nicht Fuß fassen konnten: 2013 kam unsere Tochter Sonja zur Welt, 2016 kam der berufliche Durchbruch und 2019 kauften

Böse

Bild
Meine Frau Veronika (51) hat Krebs. Brustkrebs, oder auch Mammakarzinom. Sie ist damit bei den 12,5% der Frauen, die im Lauf Ihres Lebens an dieser tückischen Erkrankung leiden. In unser Leben kam der Krebs im Herbst 2017, unsere Tochter Sonja war damals gerade vier Jahre alt, ein aufgewecktes, quirliges und bisweilen sehr forderndes Mädchen. Meine Frau war gerade 45 und führte die Verhärtung in der linken Brust auf eine Verspannung zurück. Nach dem Routinetermin bei ihrem Gynäkologen an einem Montag im November begann für uns die Parallelwelt, von der wir glaubten, sie sei etwas für die anderen, aber niemals für uns. Tastbefund, Ultraschall, ein paar Tage später Stanzbiopsie, banges Warten auf das Resultat (gutartig oder bösartig) und an einem Mittwochvormittag dann die Gewissheit. Wir hatten vereinbart, dass Veronika mir per SMS  einfach das Wort "gut" oder "böse" schreiben würde. Da standen die vier Buchstaben auf dem Handydisplay.  Wie ein Faustschlag ins Gesich