Tag 15: Panta rhei

Wattenmeer bei Husum

Panta rhei ist Altgriechisch, stammt vom Philosophen Heraklit und bedeutet "Alles fließt". Mir kommt dieser Gedanke jedesmal, wenn ich aus Wattenmeer schaue. Der unabänderliche Rhythmus von Ebbe und Flut, der diese von mir so geliebte Landschaft formte und formt. Das Wort Gezeiten zeigt schon, dass es ganz eng mit der Zeit verbunden ist. Im Niederdeutschen gibt es mit Tide nur ein Wort für Zeit und Gezeiten

Die Menschen setzen diesem Naturgesetz ihre Deiche entgegen und auch diese müssen gepflegt werden, sonst holt sich die Natur das in Jahrhunderten der See abgerungene Land zurück. Manchmal kommt es zu Sturmfluten, denen die Deiche nicht standhalten: Was eben noch Land war, gehört unwiederbringlich dem Ozean und die Topographie ändert sich für immer. Die Menschen versuchen zwar durch Eindeichungen, die Landkarte dem Fluss der Gezeiten und der Zeit zu entziehen, aber es gelingt ihnen nicht immer. 

Mich beruhigt der Blick auf das langsam auf- oder abfließende Meer immer schon sehr. Gerade hilft es mir, den Stress und die Anspannung der letzten Tage ein wenig hinter mir zu lassen. Veronika hat das Meer immer sehr geliebt - leider durfte sie es nicht noch einmal sehen: Zuletzt waren wir im Herbst 2020 in Kalifornien an der Ostsee (Gibt's wirklich!) gewesen - inmitten der ersten Covid-Zeit und wenige Tage nachdem erstmalig Metastasen im Bereich des Muskelgewebes festgestellt worden waren. 

Wie gerne hätte ich ihr noch einmal den Blick aus einem der Strandkörbe auf das Wattenmeer ermöglicht. Aber der Lauf der Natur war ein anderer und so hatte Veronika ihren letzten Blick ihr geliebtes Meer am 19.10.2020. So wie die Menschen in Nordfriesland seit Jahrhunderten mit der Natur leben, so müssen auch Sonja und ich die Sturmflut akzeptieren, die die Landkarte unseres Lebens für immer verändert hat. So schwer es auch ist.


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