Tag 72: Heimat
Veronika und ich sind oft umgezogen. Zusammengezogen sind wir ohnehin erst nach unserer Hochzeit, als wir im Herbst 2001 unsere Studentenbuden (sie) bzw. WG-Zimmer (ich) aufgegeben haben. Wir wohnten ein Jahr lang in zwei Zimmern im Haus meiner Mutter in München-Obermenzing. Im Herbst 2002 zogen wir nach Warschau. Wenn man so will, war das die erste komplett eigene Wohnung. Sie hatte eineinhalb Zimmer und befand sich in der 9. Etage eines typischen Ostblock-Plattenbaus. Der Blick auf die sich stets verändernde Skyline der durchaus dynamischen polnischen Hauptstadt war beeindruckend.
Im Sommer 2005 gingen wir - ein bisschen auf mein Drängen hin - zurück nach Deutschland. Göttingen, wo wir erstmal beide als Deutschdozenten arbeiten konnten, war als Durchgangsstation gedacht, als Provisorium. Nichts hält bekanntlich so lange wie ein Provisorium und so lebt die Restfamilie aus Sonja, mir und Isa nun immer noch in Göttingen. Von 2005 bis Mitte 2008 lebten wir ein einer winzigen Studiowohnung mitten im Stadtzentrum. Im August 2007 zogen wir in das Haus in der Herzberger Landstraße 17, das hier auf dem zweiten Bild zu sehen ist. Man konnte die Wohnung als Altbau mit Charme beschreiben: abgenutztes Parkett, Stromleitungen und Heizungsrohre auf dem Putz, hohe Räume, x-mal übermalte Tapeten, günstige Lage, für Göttingen günstige Miete. Wir waren zu Fuß in wenigen Minuten im Zentrum und konnten unseren autolosen Lebensstil weiter pflegen.
Erst wohnten wir zu zweit dort, im Sommer 2013 stieß Sonja zu uns. Im Herbst 2017 stieß dann noch der Tumor hinzu und wurde Veronikas ungewollter Dauermitbewohner. Im Herbst 2019 zogen wir dann ins eigene Haus. Da war der Tumor erstmal nicht dabei. Die Wohnung in der ersten Etage des Hauses Herzberger Landstraße 17 war der Ort, an dem wir am längsten als Paar zusammengelebt haben, etwas über zwölf Jahre. Unsere vierbeinige Mitbewohnerin kam zog erst im Herbst 2022 in unser jetziges Haus in Geismar.Die Altbauwohnung mit Charme war unsere längste gemeinsame Heimat - und hier kommt der Begriff der äußeren Heimat ins Spiel. Die innere Heimat, welche durch lange Zweisamkeit, gegenseitige Fürsorge und Vertrautheit mit einem Lebenspartner heranwächst, braucht keinen Umzusgwagen. Man hat sie stets bei sich, solange man mit seinem Lieblingsmenschen glücklich zusammenlebt. Sie bietet Sicherheit, Wärme, Geborgenheit. Wer mehr zu diesem Begriff lesen möchte, findet hier einen Artikel in der Zeitschrift Psychologie Heute.
Bei Veronika und mir waren es - wie bei vielen anderen Paaren sicher auch - gemeinsame Alltagsrituale, gute Gespräche, Intimität. Wir hatten eine Reihe uralter Späße, über die wir immer wieder lachten, bestimmte Spiele, Redensarten und vieles mehr. Solche Dinge sind es, die zu der tiefen Vertrautheit führen, die auch in stürmischen Zeiten einen sicheren Heimathafen für die Seele darstellt. Wir wurden - und vielleicht war das manchen Menschen in unserem Umfeld gar nicht so recht - im Laufe der Jahre unerschütterlich unzertrennlich, so wie zwei Bäume, deren Kronen langsam ineinanderwachsen. Das ist sicher das Empfinden vieler glücklicher Paare und ich schreibe das nicht nur für uns.
Witwen und Witwer haben diese innere Heimat für immer verloren, sie können dorthin nicht mehr zurückkehren. Man könnte auch sagen, diese innere Heimat ist bei Verwitweten zerstört, zertrümmert, zerbombt. Ich wähle dieses Bild, weil auch Flüchtlinge und Heimatvertriebene Trauergefühle empfinden, die neuronalen Prozesse im Gehirn sind im Prinzip die gleichen.
Die oft in der Literatur zitierte Trauerarbeit ist denn auch eine Art von Aufbauarbeit: Erst müssen die Trümmer der alten inneren Heimat aufgeräumt werden, dabei wird überprüft und überlegt, welche Bauteile noch vorhanden sind und weiterverwendet werden können. Nach dem Aufräumen schafft man sich erstmal eine kleine Hütte, in der man sich wieder ein wenig wohlfühlt, die man erstmal vielleicht auch als Provisorium wahrnimmt. Dass Provisorien sehr wohl zu einer (neuen) Heimat werden können, an der man sich wohlfühlt, zeigt mir unser Umzug nach Göttingen.
Meine innere Heimat mit Veronika war ein schönes großes Haus, wo immer wieder mal ein Anbau oder ein neuer Raum hinzukam. Dass das Aufräumen da länger dauert, ist völlig logisch. Ich habe mich vorgestern um eine professionelle Trauerbegleitung bemüht. Ob meine kleine neue Hütte so schneller bezugsfertig wird? Immerhin ist jetzt Herbst und die Nächte sind ab heute länger als die Tage.
Das mit der inneren Heimat hast Du sehr treffend beschrieben. Mir jedenfalls ist mein Heimatgefühl verloren gegangen. Eine professionelle Trauerbegleitung hatte ich nie, mein Leidensdruck war heftig, aber immer so, dass ich ihn allein bewältigen und meinen Schmerz ausleben konnte. Ich hatte das Privileg, mir ein gutes Jahr Auszeit nehmen zu können, in der meine Trauer im Vordergrund stand. Wann immer sie mich besuchte, hab ich mich ihr hingegeben, jedesmal danach wurde es ein Quentchen leichter. Ich glaube nicht daran, dass irgendetwas den Trauerprozess beschleunigen kann, ich musste lernen, dass Trauer ihre eigene Dynamik hat. Allerdings war ich irgendwann an dem Punkt, dass ich merkte, wie sich die Trauer veränderte und der Schmerz besser aushaltbar war. Nichts hatte ich mir sehnlicher gewünscht, als dass es irgendwann " besser" würde. Und nun stand ich an diesem Punkt und wollte und konnte ihn nicht wirklich zulassen. War doch dieser tiefe Schmerz so vertraut, und schon so lange anwesend, dass er Sicherheit und fast so etwas wie "Heimat" versprach. Es war dann wirklich eine bewusste Entscheidung, dies hinter mir lassen zu wollen und die neue unbekannte "Leichtigkeit " anzunehmen.
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