Tag 94: Wachstum

Am 10. Juni dieses Jahres hatte ich Besuch von einem Freund und Kollegen aus Frankfurt. Wir haben ein paar arbeitsrelevante Dinge besprochen und sind dann zum gemütlichen Teil übergegangen. Veronika ging es schon ziemlich schlecht. Es war die Phase, in der sie sich jeden Tag schwächer fühlte. Ich äußerte gegenüber meinem Freund die Sorge, dass Veronika möglicherweise nicht mehr lange zu leben hätte. Ich war mir - ziemlich einen Monat vor ihrem Tod - noch nicht im Klaren, wie schnell sich ihr Zustand von da an verschlechtern sollte. Er sagte mir in unserem Gespräch: "Was auch immer passiert, du wirst daran wachsen." 

Ich musste heute wieder daran denken: Neben vielen Modellen für Trauerverarbeitung bin ich heute auf eines gestoßen, das ich besonders stimmig finde. Es geht auf die neuseeländische Autorin und Dozentin Lois Tonkin zurück. Ich verlinke hier ein englischsprachiges Video, in dem das Modell erklärt ist. Grob gesagt geht es gar nicht darum, dass die Trauer im Laufe der Zeit immer kleiner wird, so lange, bis sie kaum noch sichtbar ist. Vielmehr bleibt sie immer gleich groß. Aber das Leben wächst um sie herum, wird immer größer, umfasst noch mehr Dinge. Im Ergebnis ist die verbleibende Trauer zwar gleich groß geblieben, hier ist alles nochmal auf Englisch beschrieben. 

Ich stelle mir das in etwa so vor, wie einen Gegenstand, den man irgendwo in der Natur stehenlässt, es kann auch ein unbewohntes Haus sein oder ein abgestelltes Fahrzeug. Am Anfang ist das ein Fremdkörper, ein störendes Objekt, von dem man sagt: Das gehört nicht hierher. Aber niemand bringt es weg. Dieser Gegenstand bleibt dort stehen, wo er ist, er schrumpft sicher nicht von allein. Aber die Natur wird sich unerbittlich dden Fremdkörper einverleiben. Zuerst wachsen vielleicht Moose, Flechten oder Schlingpflanzen klettern die Mauern empor. Später kommen dann andere Pflanzen, wie Sträucher und Büsche.So wird das anfangs störende Objekt langsam immer schlechter sichtbar, obwohl es noch da ist. Es springt nur nicht mehr so ins Auge wie unmittelbar nach seinem Erscheinen. Irgendwann wächst aus einem Fenster oder durch das Dach vielleicht sogar ein Baum. Dieser ist stark genug, das Objekt zu umschließen. Im Internet gibt es Bilder von in Bäumen eingewachsenen Autos oder Fahrrädern. 

Alle diese Pflanzen wachsen am und um den Fremdkörper herum. Ohne diesen Fremdkörper hätten viele dieser Pflanzen nichts zum Ranken. Sie hätten nichts, woran sie wachsen könnten. Da ist der Satz meines Freundes wieder: Ich wachse gerade an etwas. Eine Mittrauerende (soll man so sagen?) schrieb auf ihrer Trauerseite bei Instagram: "Es ist ein Privileg zu trauern." (Link zum Beitrag). Jemand anders schrieb mir vor kurzem: "Bin durch diesen ganzen Scheiss erst groß geworden." Ich bin in gewisser Weise dankbar, mit 47 nochmal als Persönlichkeit zu wachsen - man weiß nie, was es bringt.

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