Tag 139: Liebe, die zweite
Wenn man, wie ich, zum Beginn seines Witwen-/Witwerdaseins statistisch gesehen noch vier Jahrzehnte vor sich hat, stellt man/frau sich zwangsläufig auch mal ganz nüchtern die Frage, wie - und vor allem mit wem - diese nicht ganz unwesentliche Lebenszeit gefüllt werden soll. Ich habe ja viele Gespräche mit anderen Mitverwitweten geführt und ein Kaleidoskop an Ansichten zu hören bekommen: Ältere Semester, besonders weiblichen Geschlechts, berichteten, sie hätten sich gerne zu ihrem verstorbenen Mann gelegt. Für jüngere, zu denen ich mich trotz meiner 47 Jahre zähle, stellt sich irgendwann mal die Frage: Will ich's nochmal wagen, und wenn ja, mit wem?
Viele Fernseh- und Textbeiträge befassen sich indes mit der Frage: Kann man/frau zweimal bzw. zwei Menschen lieben? Gibt es ein Leben mit zwei Lieben? (https://www.psychologie-heute.de/beziehung/artikel-detailansicht/39532-ein-leben-mit-zwei-lieben.html) Da die verstorbene Person ja - wie auch immer - aus dem Leben gerissen wurde, hat man sich auch nicht in Unfrieden getrennt, sondern gegen den eigenen Willen. Und so hat kein Rosenkrieg, kein Scheidunsgdrama, keine Auseinandersetzung über den Verbleib von Haus und Kindern die Liebe eingetrübt oder zerrieben. Solche Fragestellungen rufen naturgemäß Experten auf den Plan, die solche Empfehlungen geben wie: "Die Trauer sollte abgeschlossen sein." (https://www.ihre-vorsorge.de/soziales/nachrichten/hinter-der-trauer-wartet-die-zukunft)Somit liebt man/frau seine verstorbene bessere Hälfte über den Tod hinaus. Und nach dem Tod geht's los: Da kommen dann Ratschläge von im Prinzip wohlmeinenden Mitmenschen. "Du bist noch jung, du findest wieder jemand.", "Du musst wieder jemand kennen lernen, du darfst nicht dein Leben lang allein bleiben." oder "Er/Sie hätte nicht gewollt, dass du allein bleibst." Wahlweise aber auch: "Du musst den Verlust erst verarbeiten." oder "Es ist noch nicht der richtige Zeitpunkt".
Da draußen gibt es, abseits von gutgemeinten Ratschlägen und Expertenwissen, so habe ich gehört und gelesen, so ziemlich alles: Am einen Ende sind die, die trotz Verwitwung in jungen Jahren auch nach vielen Jahren noch nicht bereit für "was Neues" sind, am anderen Ende gibt es glückliche Verbindungen, deren Grundlage schon auf einer Palliativstation gelegt wurde. Es scheint so einen unausgesprochenen Konsens zu geben, ein gesellschaftlich akzeptiertes Zeitfenster zwischen: "Wer so früh schon einen neuen/eine neue hat, hat ja wohl den/die verstorbene Person nicht richtig geliebt" auf der einen Seite und dem wohlfeilen "Jetzt ist es aber mal gut." auf der anderen Seite. Zurück zu dem angeblichen Expertenwissen: Wann ist denn die Trauer abgeschlossen? Ich übertrage diese Frage mal auf mich: Ist die Trauer abgeschlossen, wenn ich nie, nie wieder mit einem gewissen Wehmut an Veronikas und meine gemeinsame Zeit zurückdenke? Immerhin haben wir eine gemeinsame Tochter, die mit ihren zehn Jahren ihrer Mutter als Kind verdammt ähnlich sieht. Oder bin ich "darüber hinweg", wenn kein Foto von Veronika mehr in der Wohnung steht? Immerhin ist sie Sonjas Mutter. Oder wenn nichts mehr im Haus an die gemeinsame Zeit erinnert? Es wäre schade, die zum Teil gemeinsam gekauften Möbel auf den Sperrmüll zu bringen.
Wer sich mit einer Witwe oder einem Witwer verbindet, trägt ein Teil des Päckchens mit: Er oder sie muss sich damit abfinden, dass möglicherweise in der gemeinsamen Wohnung Bilder der verstorbenen großen Liebe von früher hängen, dass Erinnerungsgegenstände aufbewahrt werden, dass Momente der Melancholie und des Vermissens vorkommen. Das erfordert Geduld und Verständnis und mag bei manchen zu so etwas wie Eifersucht führen. Ebensowenig wie das Mobiliar im Haus lässt sich die Erinnerung an ein bis auf eheübliche Differenzen glückliches Vierteljahrhundert aus dem Gedächtnis entsorgen.
Viele, so habe ich gelesen, haben Bedenken, eine Verbindung (Ich finde "Beziehung" ein fürchterliches Wort.) mit einem Witwer oder einer Witwe einzugehen. Gerne geben sich Verwitwete auf den gängigen Dating-Websites dann als getrennt oder Single aus, weil eben ein Neuwagen auch einem Gebrauchtfahrzeug vorgezogen wird. In unserer optimierten Welt möchte man/frau eben das beste für sich, am liebsten unverbraucht und unbelastet.
Wenn die biologische Uhr etwas weiter fortgeschritten ist, gibt sich der "Markt" hierfür etwas zugeknöpft. Wer sich rund um die Midlife-Crisis auf Braut- oder Bräutigamschau begibt, findet - ob mit oder ohne Heiratsabsichten - oft Menschen, die ihr Päckchen zu tragen haben: Da sind die, welche eine Trennung oder Scheidung hinter sich haben: Sie haben das Versprechen "Bis dass der Tod euch scheidet." nicht eingehalten. Den Grund des Scheiterns indes wird man nur aus der Perspektive der einen Person erfahren. Man stelle sich vor, man lernt in Verpaarungsabsicht eine geschiedene bzw. getrennte Person näher kennen, alles ist rosarot, bis man sich nach dem Grund für die gescheiterte Ehe oder Partnerschaft (m. E. auch so ein Unwort!) erkundigt. Nicht genug damit, man befragt, um sich abzusichern, auch noch den bzw. die Ex nach dem Grund für die erkaltete Liebe. Wie viele romantische Anbahnungen würden dann wohl im Keim erstickt, wenn der oder die Ex über den oder die Angebetete vom Leder ziehen würde?
Die zweite Gruppe B-Ware auf dem Datingmarkt sind Witwen bzw. Witwer wie ich: Die lieben ja immer noch jemand anderen irgendwie und sind über den Verlust nicht so richtig hinweg, heißt es. Aber irgendwie sollen die ja doch mal jemanden finden, weil es ja irgendwann auch wieder gut ist (siehe entsprechenden Beitrag in diesem Blog). Bei uns Witwern oder Witwen ist es nicht möglich, heimlich beim oder bei der Ex Informationen einzuholen. Dafür gibt es aber auch garantiert keinen Stress mit dem/der Ex, wenn es zum Beispiel um die Betreuung der in unserem Alter oft vorhandenen Kinder geht.
Somit ist die Liebe im Leben 2.0 (nach Trennung oder Tod) nicht mehr ganz unbehaftet, aus welchem Grund auch immer. Was man/frau daraus macht,ist etwas Anderes. Witwe-Witwer ist angeblich auf dem Zweitheiratsmarkt keine seltene Kombination. Es soll sogar Paare geben, die berichten, die zweite große Liebe sei irgendwie größer und glücklicher als die erste. Sachen gibt's ...
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