Tag 145: Rituale

Rituale - so erklärt es das Lexikon - können weltlicher oder religiöser Art sein, sie verlaufen nach vorgegebenen Regeln und sind Teil des menschlichen und gesellschaftlichen Miteinanders: Sie geben Halt und Orientierung und ich halte sie gerade in der heutigen optimierten Highspeed-Welt für eine wichtige mentale Stütze. Trauerfeiern, Totenmessen, Beerdigungen und Urnenbeisetzungen gehören ebenso dazu wie das Essengehen danach. (Manche sagen dazu Leichenschmaus, ich finde das Wort etwas gruselig, weil es mich immer an Kannibalismus denken lässt.) Aber nicht nur im Zusammenhang mit dem Lebensende begleiten uns Rituale. 

Der Dezember ist ungewöhnlich schneereich über das Land hergefallen und mit ihm der Showdown dieses Jahres 2023: In wenigen Wochen sind die dunkelsten und kürzesten Tage des Jahres, wir feiern die glühweingetränkte nachträglich christianisierte Wintersonnwende, ehe 2023 unter lautem Feuerwerkdonner auf das Abstellgleis namens Vergangenheit geschoben wird. Neues Jahr, neues Glück? Auch hier ritualt es demnächst überdurchschnittlich oft. Ehrlich gestanden, ich fühle mich nicht so recht bereit für das ganze Programm: Ich habe arrangiert und organisiert, beantragt und veranlasst um Sonjas und mein "Leben 2.0" auf die rechte Bahn zu lenken. Und doch: Noch immer kenne ich mich in unserem Haus nicht aus, weil ich nun mal nicht der Hausmann war. Meinetwegen könnte morgen schon der 2. Januar 2024 sein und nicht der 2. Dezember 2023.

Aber: Ich habe eine Tochter und für sie sind die ganzen Weihnachtsprozeduren, - zeremonien und -rituale eben wichtig. Das habe ich in den letzten Tagen auch verstanden. Für sie ist damit viel Erinnerung verbunden, an ihre Mutter, an vergangene Zeiten, wo für sie noch eine bekannte Ordnung bestand. Umso mehr freut es mich, dass an diesem Wochenende eine Freundin von Veronika mit ihrer Tochter die kleine Küche unseres Hauses in Beschlag genommen hat: Dort findet unter fachkundiger Anleitung von Anja und Elisa aus München in diesem Moment die Weihnachtsbäckerei statt. Ich freue mich über diese ganz pragmatisch-praktische Unterstützung aus meiner bayerischen Ur-Heimat und auch Sonja ist beim Gebäckformen und -verzieren ganz aus dem Lebkuchenhäuschen.  

Für meine liebe quirlige Tochter ist eben das vorweihnachtliche Backen ein wichtiges Ritual. Ein Ritual, das dieses Jahr so anders als früher und doch so anders schön zelebriert wird. Ich hoffe, ich handle ganz im Sinne von Veronika. Na ja, so ganz wahrscheinlich nicht: Ich habe mich tatsächlich etwas aus dem süßen Geschehen ausgeblendet, weil ich mich als alleinerziehender Vater auch mal freue, wenn Sonja mit anderen zusammen etwas auf den Weg bzw. aufs Backblech bringt. Und ich stelle mal wieder fest, wie wichtig Freunde sind - gerade in turbulenten Zeiten. Somit an dieser Stelle: Viel Spaß liebe Sonja, es riecht ganz wunderbar weihnachtlich hier drinnen und lieben Dank an Anja und Elisa: Ihr macht einen tollen Job!  

Kommentare

Am meisten gelesen

Tag null: Drei Anrufe

Tag 6: Brief an Veronika

Tag 370: Die Macht des Schicksals