Tag 171: Ein halbes Jahr alleinerziehend

Heute vor einem halben Jahr verließ Veronika unser Haus, um sich in stationäre Behandlung zu begeben. Es war nicht ausgesprochen worden, dass sie nie mehr zurückkommen würde. Aber ich hatte es im Gefühl. Nachdem sie ziemlich hektisch das Haus verlassen hatte, saß ich erstmal eine halbe Stunde - frisch gebacken alleinerziehend - wie belämmert an unserem unabgeräumten Küchentisch. 

Während ich das schreibe, sitze ich an einem abgeräumten Tisch in einer Jugendherberge im Harz, wo ich mit Sonja und Isa die Zeit bis Neujahr verbringe. Belämmert bin ich nicht direkt, aber etwas ermattet aufgrund der Redseligkeit meiner lieben und dabei stets witzigen Tochter. Die Landschaft hier vor der Tür ist schön, sehr waldreich und eigentlich würde ich beim Spazierengehen nur das Rauschen der Bäche und des Windes in den Wipfeln hören: Aber ich habe meine liebe Tochter bei mir, deren Mitteilungsbedürfnis eher überdurchschnittlich ist. 

Um mich selbst in dieser Situation zu unterstützen, mache ich das, was mir am meisten hilft: Ich tausche mich aus. Nein, ich ersetze mich nicht durch eine genetisch identische Kopie und fahre als Original in einen mehrmonatigen Wellnessurlaub. Ich erzähle es jemandem aus meinem neuen Netzwerk. Einer meiner Kontakte, die auch so eine Suppe auszulöffeln hat wie ich: Bei uns Verwitweten gibt es kein "Jedes zweite Wochenende ist mein Sohn/meine Tochter beim Papa/bei der Mama." Erst Recht kein Wechselmodell oder Single-Urlaubsreisen. Gut, man könnte in die Waagschale werfen, dass ein Post-Trennungs-Stress mit dem/der Ex bei meinen Leidensgenossen und mir ein Ding der Unmöglichkeit ist. Ich behaupte trotzdem, dass alltagspraktische Auseinandersetzungen mit anderen Erwachsenen mit der Vorsilbe Ex- einfacher auszufechten sind, als solche mit Prä- und Mittendrinpubertierenden. 

Und so ein zweiwöchentliches kinderfreies Wochenende oder - in der Premiumversion - jede zweite Woche "nur" Haushalt und Job an der Backe klingt für mich schon recht verlockend. 

Eine meiner geschätzten Mitwitwen trifft die semantisch sinnvolle Unterscheidung zwischen getrennt erziehend und alleinerziehend. Und damit trifft Sie m. E. den Nagel auf den Kopf: Allein heißt allein. Getrennt heißt im Idealfall ein paar Straßen weiter und somit im Krankheitsfall verfügbar. Und auch finanziell in der Verantwortung für den gemeinsamen Nachwuchs. 

Theodor Hildebrandt: Krieger und Kind
Ich habe schon erlebt, dass sich alleinerziehende über getrennt erziehende, die ihr Leid als vermeintlich alleinerziehende beklagen, ereifern. Sind die getrennt erziehenden also die Warmduscher unter den alleinerziehenden? Die Automatikfahrer? Ich nehme mir nicht heraus, auf eine Gruppe von Menschen, die den Schicksalsschlag einer Trennung oder Scheidung hinter sich hat, herabzublicken. Oft genug kommen - wie ich in diversen Facebookgruppen und auch im Bekanntenkreis erfahren durfte - mehrheitlich Väter nach einer Trennung ihren Erziehungspflichten nicht besonders engagiert nach. 

Bei Menschen, die eine Trennung hinter sich haben, ist der Partner bzw. die Partnerin ja nicht komplett "weg", ihn/sie hat allerdings oft jemand anderes. Das ist sicher auch keine schöne Erfahrung. Und doch behaupte ich, dass es gegen eine Trennung, wenn sie denn nicht von beiden einhellig gewünscht ist, Mittel gibt, die weniger Nebenwirkungen haben als eine Chemotherapie. Und diese Mittel sollten im Sinne der Kinder ausgeschöpft werden, denn eine größere Verantwortung als die für das Wohlergehen Minderjähriger gibt es m. E. nicht. Klar, wenn so etwas wie Gewalt in der Ehe im Spiel ist, dann ist eine Trennung natürlich alternativlos. So eine hässliche Erfahrung kann wiederum ich nicht ansatzweise nachvollziehen.   

Ungut ist es natürlich auch, wenn sich getrennte Partner irgendwie wechselseitig die Schuld an der erkalteten Liebe samt gescheiterter Beziehung zuschieben. Aber das liegt in der Natur der Sache, dass man/frau sich hier in der Schuldfrage nicht einig ist, wenn diese denn gestellt wird, z. B. von gemeinsamen Kindern. Schließlich waren sich die frisch getrennten auch in anderen Punkten wahrscheinlich uneinig. Äußerst selten - so zumindest meine Erfahrung - ist die Schuldfrage bei einer Trennung eindeutig zugunsten oder zu Lasten eines Beteiligten zu entscheiden. 

Bei "uns Verwitweten" sind die Verhältnisse dagegen erschreckend klar. Eine Schuldfrage ist nicht zu klären, es gibt kein Outsourcing von Erziehungs- und Versorgungsfragen. Dafür erspart man sich sämtliche Auseinandersetzungen bezüglich Kleidung, Ernährung, erlaubter Mediennutzungsdauer und vielem mehr. Auch Familiengerichte werden nicht mit Sorgerechts- und Umgangsregelungen an die Grenze ihrer Kapazität belastet. Ich bin mir mit mir immer sehr schnell (außergerichtlich) einig, wenn es um Sonja geht. Bis auf die Auseinandersetzung mit ihr natürlich. Damit meine ich nicht, dass ich alles immer richtig mache. Die direkte Konfrontation mit dem zu erziehenden Kind betrifft dann aber Verwitwete und Getrennte gleichermaßen. Und eigentlich finde ich diese Diskussionen auch nicht so schlimm. Und damit schließt sich der Kreis.

Kommentare

Am meisten gelesen

Tag null: Drei Anrufe

Tag 6: Brief an Veronika

Tag 370: Die Macht des Schicksals