Tag 200: Veränderung

200 Tage sind vergangen. Ich habe gerade das Gefühl, die Zeit rast. An Tag 100 waren wir drei im Ospizio Bernina. Das kommt mir vor, als sei es erst vor wenigen Tagen gewesen. Vor 200 Tagen standen Sonja und ich vor vollendeten Tatsachen, sie Halbwaise, ich Witwer. Jener 10. Juli kommt mir hingegen vor, als sei er eine Ewigkeit her. 

Sonnenuntergang bei Göttingen
Vielleicht liegt das unterschiedliche Zeitempfinden für diese zwei 100-Tages-Zeiträume daran, dass sich im ersten 100-Tages-Zeitraum mehr verändert hat, als im zweiten 100-Tages-Zeitraum. Es hat sich - naturgemäß - eine Menge in unserem Leben gewandelt:

Vieles, was im Alltag von Veronika und mir gemeinsam "gestemmt" wurde, liegt nun auf meinen Schultern. Diese erweisen sich als stärker und tragfähiger, als ich es erwartet hätte. Meine Hausmannfähigkeiten verbessern sich langsam aber stetig: Das Haus versinkt nicht im Chaos, es gibt nicht jeden Tag Tiefkühlkost und unsere Hundedame kommt auf ihre Gassikosten. Sonja kommt mit den Anforderungen der weiterführenden Schule gut zurecht. Und das Wichigste: Wir vereinsamen nicht im Trauerloch, Freunde besuchen uns, manche Kontakte spielen sich im virtuellen Raum ab und es gibt neue Menschen in unserem Leben.

Wir haben dieses neue Leben, dieses Leben 2.0, nicht gewählt, aber haben es angenommen und nehmen es weiter an. Manchmal fühlt es sich schon selbstverständlich an, manchmal wünschen wir uns, der Spuk möge vorbei sein, jemand soll Sonja und mich zwicken und wir wachen aus diesem Traum auf. Niemand, der nicht in unseren Schuhen geht, kann - so denke ich - nachvollziehen, wie sich so etwas anfühlt. Wir tragen diese unbequemen Schuhe und gehen unbeirrt weiter, mal ist der Weg trocken, breit und ebenerdig, mal ist er steil, steinig und schlammig. Aber nur starke Menschen bekommen vom Leben schwere Wege, die sie gehen müssen, um weiterzuleben. Und starke Menschen sind Sonja und ich in den letzten Monaten geworden. 


Sonnenaufgang (Göttingen): 08:07

Sonnenuntergang (Göttingen): 16:57

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