Tag 224: Akzeptanz
Es tut mir oft weh, das zu Sonja sagen zu müssen: "Unsere Situation ist Sch...., aber es ändert nichts daran, wenn wir uns das immer wieder selbst sagen. Wir können es nur akzeptieren und einen Fuß vor den anderen setzen, was wir jeden Tag wieder aufs Neue tun."
Natürlich geht eine zehnjährige anders mit so einer Situation um als ein Endvierziger. Natürlich ist es - meiner Meinung nach - etwas Anderes, viel Schwerwiegenderes, die Mutter in jungen Jahren zu verlieren, als die Ehefrau in mittleren Jahren. Ich hatte von Veronika alles, was ich bekommen konnte, und Sonja sitzt als absolutes "Highlight" gerade wenige Meter von mir entfernt und erledigt verantwortungsvoll und selbständig ihre Hausaufgaben. Ich bewundere meine Tochter dafür, dass sie trotz ihrer schweren Last im Großen und Ganzen ein ausgeglichenes Kind ist und keinerlei Schul- oder sonstige Probleme verursacht.
Immer wieder sagt sie mir, sie kann es nicht akzeptieren, keine Mama mehr zu haben, sie kann dieses neue Leben nicht akzeptieren. Ja, sie ist ein Kind (wenn auch am Übergang in die Pubertät), und natürlich hat sie - im Gegensatz zu mir - eben nicht alles von ihrer Mama bekommen können, was möglich gewesen wäre. Ich sehe - wie viele andere - Trauer ja als einen Heilungsprozess der verwundeten Seele. Nach dem Prozess wächst keine ganz frische Haut mehr über die entstandene Wunde, aber es bildet sich irgendwann, langsam und sicher eine Art Narbe, die an die Verletzung erinnert, auch wenn irgendwann kein Blut mehr austreten kann. Bei Sonja, so bin ich mir sicher, wird diese Narbe größer, sichtbarer und weniger homogen sein als bei mir. Und aller Voraussicht und Statistik nach, wird sie länger damit durchs Leben gehen müssen als ich.
Man sollte in so einer Situation weder messen noch vergleichen, aber mir fällt es immer nochmal schwerer, Sonjas Schicksal zu akzeptieren als meines:
Zu akzeptieren, dass sie knapp die Hälfte ihrer Kindheit ohne Mama verbringen muss.
Zu akzeptieren, dass ihr Mama noch so viel mitgeben wollte, aber eben dies nicht mehr kann.
Zu akzeptieren, dass bei Schulveranstaltungen, Weihnachtsfeiern o. Ä. immer nur ein Elternteil dabei sein kann, etwas, was sofort ins Auge sticht.
Zu akzeptieren, dass sie mit ihren Problemen im Alltag nur zu einer Person kommen kann, um ihr Herz auszuschütten.
Zu akzeptieren, dass sie keine weibliche Ansprechpartnerin auf Augenhöhe hat, mit der sie über die anstehenden körperlichen Veränderungen sprechen kann.
Und für mich gilt zu akzeptieren, dass sie immer wieder mal nachts weinend zu mir kommt, dann ist sie noch richtig Kind und doch noch kein Puber-Tier. Und dann wird mir bewusst, dass ich als Vater dringend gebraucht werde.
Sonnenaufgang (Göttingen): 07:21
Sonnenuntergang (Göttingen): 17:46
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