Tag 293: Selbstliebe


"Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Dieser Satz aus dem Markusevangelium (Markus 12, 31), wird oft küchentischpsychologisch zitiert. Und doch lohnt es sich, ihn einmal genauer zu beleuchten: Er beinhaltet auch, dass man andere nur dann wirklich lieben kann, wenn man sich selbst liebt. Wer sich selbst nicht liebt, kann nur schwer andere lieben. Die Selbstliebe ist häufig Gegenstand psychologischer Abhandlungen und Ratgeber, gerne auch unter der Abwandlung Selbstfürsorge oder dem englischen Begriff Self Care. Ich habe dies in an anderer Stelle schon einmal thematisiert. Im Zusammenhang mit dem heute exakt 293 Wochen zurückliegenden größten Umsturz in der Mitte meines Lebens und am Anfang von Sonjas Leben habe ich mich öfter mit diesem Begriff beschäftigt. Mit ausschlaggebend dafür war ein Gespräch mit einer Lehrerin von Sonja im vergangenen Herbst: Ich erläuterte damals, wie ich versuche, Sonja unter den schwierigen Umständen auf ihrem Lebensweg - unter anderem nach dem Schulwechsel - zu unterstützen. Ich erzählte beispielsweise von der Kindertrauergruppe, von Treffen mit Freunden, gemeinsamen Reisen, dem in Anspruch genommenen Erziehungsbeistand. Als ich mich gerade warm geredet hatte, unterbrach die Lehrerin mich und fragte: "Und was machen Sie für sich?"
Ich musste innehalten und mir fiel spontan die Sicherheitsansage im Flugzeug zum Gebrauch der Sauerstoffmasken ein: Put on your own mask before helping others. Zu Deutsch: Setzen Sie Ihre eigene Maske auf, bevor Sie anderen helfen. Es hört sich brutal an, aber es ist sinnvoll, sich selbst an erster Stelle in Sicherheit zu bringen, um dann schwächeren, eventuell mehrere schwächeren Personen helfen zu können. Mir wurde klar, dass ich in der Folgezeit für Sonja stark sein müsste. 
Und so gönne ich mir konsequent mehr Freiraum: Neben dem Einfordern und Annehmen von Unterstützung ist das ist in erster Linie auch Arbeit an mir selbst: Ich verstehe es besser, es nicht immer allen recht machen zu müssen. Ich bin 48, stehe voll im Leben und für mein Leben ein. Ich schulde niemandem etwas, außer mir selbst und natürlich meiner Tochter. Ich erziehe Sonja nach meinen Vorstellungen - und sie ist, wie mir immer wieder versichert wird, für ihr Alter kognitiv und sozial sogar überdurchschnittlich weit. Es ist mir eine Ehre, dass Sonja - bei allen alltäglichen kleinen und alterstypischen Vater-Tochter-Reibereien - mich immer wieder als Best Dad Ever bezeichnet. Zudem arbeite ich mit ihr gezielt an mehr Selbständigkeit: Sie wird immer besser darin, Wege in der Stadt, ob mit oder ohne Bus, alleine zurückzulegen. Das Paradoxe ist, dass Kinder in ihrem Alter sich auch mehr wie kleine Erwachsene verhalten, wenn man sie wie kleine Erwachsene behandelt. Dazu gehört für mich, von ihr konsequent mehr Eigenständigkeit einzufordern. 
Der Jahrestag von Veronikas Tod nähert sich mit großen Schritten und ich frage mich oft, wie sie die Entwicklung ihrer kleinen Familie wahrnehmen würde. Ich habe ja keine Ahnung, ob sie von dem Ort, an dem sie sich befindet, etwas mitbekommt. Aber wenn das so ist, glaube ich, sie wäre ziemlich stolz auf uns.

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