Tag 366: Annus Luctus


Liebes Trauerjahr,

während ich heute - an Veronikas Todestag - an dich schreibe, sitze ich an der Ostsee. Es regnet, die Luft weint Tränen ins graue Meer, das sich irgendwo in der Ferne unmerklich mit dem grauen Himmel vereint. Es ist fast windstill, der sanfte Hauch sagt aber: Es gibt eine Zeit nach dem Regen. Vor einem Jahr war ich an der Nordsee und musste überstürzt abreisen, weil es mit Veronika zu Ende ging. Heute darf ich bleiben. Du merkwürdiges, ungewohntes und langes Trauerjahr, jetzt bist du zu Ende. Ich habe dich nicht gewollt, Sonja sicher auch nicht. Aber Sonja und ich sind durch dich hindurchgegangen. 

Obwohl ich dich nicht zu mir gebeten habe, möchte ich dir danken. Du hast mich etwas gelehrt, was viele nicht in meinem Alter lernen dürfen: das Weiterleben. Sich Widerständen zur Wehr zu setzen, volle Verwantwortung für Kind, Hund und Haus zu übernehmen und sich dabei zuzugestehen, nicht perfekt sein zu müssen. Wie ich finde, alles sehr wichtige Themen. 

Es war keine leichte Lektion, aber ich meine, das Klassenziel habe ich ebenso erreicht wie Sonja. Wir haben einen Fuß vor den anderen gesetzt, unseren Weg auf der Sonnenseite fest im Blick, auf dieser Reise, welche die Menschen prosaisch Leben nennen. Wir sind in unserem Tempo gegangen, so weit wir wir eben gehen konnten. Trotz aller Schwierigkeiten haben wir versucht, jeden Tag zu begrüßen, als einmaliges Geschenk. Wir wussten, dass wir das Recht haben, für uns nach glücklichen Momenten zu suchen. Wir sind hier als zwei Menschen und ein Schnauzer zusammengewachsen, gemeinsam stärker geworden

Dieser Weg ist keine Einbahnstraße gewesen, und auch keine Rutschbahn. Manchmal schmerzte jeder Schritt, gerade am Anfang. Manchmal aber ging es auch mit schnellen Füßen und raschem Mut nach vorne. Immer wieder sind wir stehen geblieben und haben uns umgeschaut: Zurück in unser altes Leben, als wir noch eine "normale" Familie waren: Vater, Mutter, Kind, Hund, Reihenhaus.  Manchmal sind diese Rückblicke schwermütig, manchmal auch heiter. Bei mir sind sie auch immer mehr mit einer Liebe und Dankbarkeit verbunden, dass ich die Zeit erleben durfte. Dass Veronika und ich voneinander lernen und aneinander reifen durften. Ich trage sie heute, ein Jahr später, in liebevoller Erinnerung in mir. Eine Erinnerung, die mir niemand nehmen kann.

Und ich habe in den letzten Monaten gelernt, dass ich den Alltag und das Leben nicht nur bewältigen , sondern auch ganz langsam wieder genießen kann. Manchmal denke ich, Veronika zieht von irgendwo aus die Fäden in Sonjas und meinem Leben. Und ich bin sicher, sie hat ein riesengroßes Interesse daran, dass es Sonja und mir gut geht. In jeder Hinsicht.

Liebes Trauerjahr, danke dir, du darfst jetzt gehen. 


Benni (mit Sonja und Isa)




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